Donnerstag, 9. Juli 2009
Melisandra tat so, als sässe sie ganz entspannt auf ihrem Platz, und versuchte gleichzeitig, möglichst genau durch das Ruderloch zu schauen, möglichst viel mit ihrem Blick zu erhaschen. Je näher sie dem Strudel kamen, desto ruhiger wurde sie. Eine kalte, harte Entschlossenheit hatte von ihr Besitz ergriffen. Sie konnte sehen, wie das Wasser schaumig an den schwarzen Felsen hochspritzte. Sie musste an ihren Grossvater denken, der zu dieser Stunde sicher in seinem Schaukelstuhl Siesta hielt, den Kopf im Schlaf zur Seite geneigt, die Baskenmütze in den Händen auf seinem Schoss. Das Wasser floss jetzt glatt, nur leicht gewellt und spiegelte sich auf den schwarzglänzenden Felsen wie in einem Spiegel aus Glas.
Vielleicht so dachte Melisandra, war dies der Trick, vielleicht musste sie das Zentrum des Strudels nur als Spiegelbild auf dem Felsen und nicht direkt ansehen. Vielleicht verlor er dann die tödliche Wirkung, seine mörderische Anziehungskraf. Schon konnte sie die nach innen immer enger werdenden Wirbel sehen, das zäh wie flüssiges Silber kreisende Wasser.
"Jetzt alle die Augen schliessen", liess sich Pedro vom Ruderstand her dröhnend vernehmen.
Melisandra hielt die ihren weit offen und atmete tief durch den Mund, denn sie fühlte einen eisernen Ring um ihre Brust gelegt. Und da sah sie es endlich. Das Zentrum des Strudels war von einem schillernden Schwarz, in dem alle Farben einen winzigen Augenblick lang aufzuleuchten schienen, um sich dann ineinander aufzulösen. Lange Lianen und exotische Vögel schwebten auf unterschiedlicher Höhe und drehten sich schwindelerregend schnell im Kreis. Sie sah das lüsterne Gesicht eines Seemanns neben dem nackten Körper einer sehr hellhäutigen Frau, deren Schönheit sie vor Rührung erschauern liess. Sie sah Truhen und Boote und Stühle, Kommandobrücken von Geisterschiffen und ihre Kapitäne in der erhabenen Haltung, mit der sie sang- und klanglos untergegangen waren; sah ein ganzes, regloses Orchester mit seinen Violinen, Bratschen, glänzenden Flöten, sah Mütter, die sich über die Gesichter ihrer Kinder beugten, sah Landkarten versunkener Regionen, Fernrohre, herrliche Galionsfiguren, strahlend weisse Kerzen; sie sah Tausende von Sanduhren, die in endlosem Wechsel abliefen und sich wieder füllten, und sah schliesslich die stille Iris des Wassers im Zentrum, herrlich wie eine Lagune am Ende der Welt. Es dauerte nur einen Augenblick, da hatte sie sich schon erhoben. Wollte mehr sehen, wollte die menschenäugigen Fische kennenlernen und die Meerjungfrauen singen hören. Nichts bedeutete mehr etwas, nur noch dies. Es war von einer solch ergreifenden Schönheit... war, wie in einen Mutterleib zu schauen und die Substanz von Leben und Tod gleichzeitig zu erblicken: Plankton, Algen, die Architektur des Universums. Ach, könnte sie doch nur auf eine der Ruderbänke steigen, um besser zu sehen!
"Melisandraaaaaaaaaa!!!"
Gioconda Belli, Waslala
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